Faszination Filofax

Man kann’s nicht anders nennen: das, was sich momentan rund um das Thema Filofax abspielt, ist ein echter Hype.
Gut, gehypt werden im Internet im Allgemeinen und dieser wunderlichen Blogosphäre im Speziellen ein Haufen Dinge. Fernsehserien. Bento-Boxen. Glitzernagellack.
Aber ein… Kalender? Das ist doch eher ungewöhnlich. Grund für mich, mal den Medienwissenschaftler-Hut aufzusetzen und das Phänomen näher zu betrachten. 🙂
Das findest du hier:
Fakten zum Trend
Das deutschsprachige Filofax-Forum Filomaniac* existiert seit März 2012 und verzeichnet derzeit (1. März 2014) 397 Mitglieder. Davon haben sich allein 199 (das sind 50%!) innerhalb des letzten Monats angemeldet, sprich seit Anfang Februar. Im Januar waren es 53 Registrierungen, im Dezember 2013 nur 23, im November 14, im Oktober 8 und so weiter.
* Update vom Juni 2019: mittlerweile existiert das Forum leider nicht mehr.
Dieser beachtliche Trend mag zum Einen daran liegen, dass schlicht mehr Werbung für das Forum gemacht wurde, aber wenn man sich parallel dazu in der Blogosphäre umschaut, liegt ein anderer Schluss nahe: es beschäftigen sich einfach mehr und mehr Leute mit dem Thema Filofax.
Auf YouTube finden sich aktuell rund 1.030.000 (!) Treffer zum Stichwort Filofax. Die Vlogger zeigen, wie sie ihren Kalender generell eingerichtet haben, präsentieren ihre gestalteten Seiten der letzten Woche oder zeigen DIY-Anleitungen. Das gleiche Phänomen lässt sich auf Pinterest, Flickr und Instagram beobachten, hier eben in Form von Fotos.
Wie so oft, ist das Thema im englischen Sprachraum schon weiter verbreitet – an dieser Stelle verweise ich mal auf die ellenlange Linkliste von Filofax-Blogs auf Philofaxy. Auch auf YouTube und Pinterest herrschen englischsprachige Beiträge vor.
Hier in Deutschland dürfte Iris‘ Blog Filomaniac (das gleichnamige oben genannte Forum ist daran angeschlossen) der bekannteste Blog zum Thema Filofax sein und wird bereits seit 2010 geführt (Update vom Juni 2019: mittlerweile existiert der Blog nicht mehr). Aber auch allgemeinere Blogs zeigen in letzter Zeit vermehrt Bilder von ihrem Filofax.
Was ist das Besondere an einem Filofax?
Grundsätzlich ist ein Filofax einfach ein Kalender mit Ringheftung. Bei weitem keine neue Erfindung also, allein die Firma Filofax existiert seit 1921. Wir alle kennen diese Sorte von Kalendern, auch wenn wir den Namen „Filofax“ vielleicht noch nie gehört haben. Ging mir zumindest so. 😉
Anders als für No Name-Kalender, für die man in der Regel allenfalls Kalenderblätter zum Nachfüllen kaufen kann, wird für den Filofax eine ganze Palette an Accessoires angeboten: Filofax selber vertreibt neben diversen Wochen- und Monatskalendern auch passende To Do-Listen, Adressregister, Klarsichthüllen, Visitenkartenhüllen, Weltkarten und und und.
Hinzu kommen etliche Bastelwütige, die selbstgestaltete Einlagen zum Herunterladen und Ausdrucken anbieten (sogenannte Printables) – teils gratis als Freebie, teilweise käuflich, beispielsweise über die Plattform Etsy.
Innerhalb der „Szene“ finden sich etliche Menschen, die statt des Originals einen preiswerteren No Name-Kalender nutzen. So what, das funktioniert genauso gut. 😉
Wir sagen „googeln“ statt „im Internet suchen“, wenn uns die Nase läuft, bitten wir um ein Tempo, und beim Geschenkeverpacken wären wir aufgeschmissen ohne Tesa. Auch wenn wir da bei weitem nicht immer das Original verwenden – diese Markennamen haben sich einfach in unseren Wortschatz eingeschlichen. Ebenso scheint sich Filofax als Begriff für „einen Terminkalender aus Papier verwenden und modifizieren“ etabliert zu haben. Voilà, ein Deonym.
Also ist die Frage vielmehr:
Warum begeistert man sich für so einen Kalender?
Ein Papierkalender, wie es ihn schon zu Omas Zeiten gab, im Jahr 2014 – srsly?
Die meisten von uns sind mit solchen Kalendern aufgewachsen. In meiner Schulzeit hatte man irgendwann kein schnödes Hausaufgabenheft mehr, sondern einen Kalender – und der wurde zumindest von den Mädchen grundsätzlich gestaltet. Zeig mir deinen Kalender und ich sag dir, wer du bist.
Außen drauf kamen coole Aufkleber 😉 , aus Zeitschriften ausgeschnittene Fotos von Bands, Mottos wie das unsägliche „Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum“. Auf den Innenseiten wurden Kinokarten eingeklebt, Verabredungen fein säuberlich eingetragen und verziert, während dröger Physikstunden ganze Heerscharen von Tierchen eingezeichnet… ja, das Gestalten hat einfach Spaß gemacht.
Daran hat sich auch Jahre später nichts geändert. Und so rücken Hunderte längst erwachsener Menschen ihren Kalendern mit bunten Stiften zu Leibe, bekleben sie mit Masking Tapes in allen möglichen Farben, schneiden sich Trennblätter zurecht, und und und. Aus purer Lust am Kreativsein.
Warum das Analoge dem Digitalen manchmal überlegen ist
Kein Smartphone und kein Tablet kommt heute ohne Kalenderfunktion daher. Auch für To Do-Listen hält die digitale Welt Dutzende Tools wie etwa Wunderlist parat. Aber so praktisch es auch sein mag, alles digital und auf mehreren Geräten synchron zu verwalten – es hat etwas Flüchtiges.
Der Wunsch danach, vielfältigere haptische Erfahrungen zu machen als einfach nur auf Tastaturen und Touchscreens zu drücken.
Vielleicht spielt auch das eine Rolle. Der Wunsch nach etwas Beständigerem, nach Entschleunigung. Danach, nicht nur über Touchscreens zu wischen und die immergleichen Tasten zu drücken, sondern weitaus vielfältigere haptischere Erfahrungen machen zu können: dünne Papierseiten mit einem feinen Rascheln umblättern, Post-Its abziehen und aufkleben, mit einem Lineal Bleistiftstriche ziehen und dabei das leise Schaben der Bleistiftmine über das Papier hören, … mhh. Ich mag das, irgendwie.
Den Überblick über einen Haufen Termine und Aufgaben müssen die meisten von uns irgendwie behalten. Sei es nun mit einem Smartphone, mit einem Kalender an der Küchenwand, mit Post-Its am Monitor oder halt mit einem Filofax. Es scheint einfach so, als sei ein guter alter Papierkalender für viele einfach das praktischste Werkzeug – unabhängig davon, wie viel Zeit man denn nun damit zubringen will, ihn zu gestalten.
Filofaxing ist mehr als nur bunt anmalen
Dieses Individualisieren hat allerdings einen interessanten Effekt: man macht sich Gedanken über sein Leben und bringt eine gewisse Struktur hinein. Denn oft werden die Kalender nicht einfach wahllos mit irgendwelchen Stickern verziert, sondern mit einem ganz eigenen System organisiert.
Viele nutzen Colour Coding, also ein individuelles Farbschema, um verschiedene Sorten von Terminen und Einträgen übersichtlich zu gestalten. Wochenkalender auf zwei Seiten oder lieber eine ganze Seite für einen Tag? Monatsübersicht? Oder alles parallel? To Do-Liste beim jeweiligen Tag oder als zusätzliche Seite? Will ich nur wissen, wann ich wo welchen Termin habe, oder will ich auch Erlebnisse für später festhalten? Wie ticke ich? Was mache ich eigentlich mit meiner Zeit?
Man macht sich Gedanken darüber, was man eigentlich notieren möchte und in welcher Form. Und das weitaus vielfältiger, als es die vorgegebenen Optionen einer Software ermöglichen.
Und was hat den Hype ausgelöst?
Tja, aber was hat denn nun den aktuellen Hype ausgelöst, der hierzulande ungefähr seit Anfang des Jahres 2014 herrscht?
Gut, es ist naheliegend, dass man sich gerade zum Jahreswechsel mit dem Thema Kalender beschäftigt. Aber warum ist es dann nicht schon letztes oder vorletztes Jahr zu einem solchen Trend gekommen? Hmm.
Im Laufe des letzten Jahres habe ich beobachtet, dass etliche Bloggerinnen begonnen haben, ein Memory Book zu führen: ein Album, in das man für jeden Monat ein oder mehrere Seiten mit Fotos und Einträgen gestaltet. Quasi wie ein illustriertes Tagebuch, in dem man später zurückblättern und stöbern kann. Natürlich wird das auch stolz auf dem Blog präsentiert.
Bei der Gestaltung dürfte das Scrapbooking bzw. das Gestalten von Smash Books Pate gestanden haben, denn auch hier arbeitet man ja mit Masking Tape, Post-Its, zurechtgeschnittenen Fotos und so weiter.
In gewisser Weise ist das ein ähnlicher Ansatz wie bei vielen der Filofax-Kalendern, in denen auch weit mehr als nur schnöde Zahnarzttermine festgehalten werden. Dass es Sammelordner für die alten Kalenderblätter gibt, spricht für sich – die werden nicht einfach weggeworfen, sondern sind mehr als nur ein Gebrauchsgegenstand. Filofaxes & Co. sind Erinnerungsbücher.
Und Hand auf’s Herz: Blogger wären nicht Blogger, wenn sie nicht gerne herzeigen würden, was sie denn so gestaltet und fabriziert haben. 😉 Und natürlich führt das zu einem gewissen Ohh-ich-will-auch-Effekt, wenn man so etwas auf anderen Blogs sieht. 😉
Nicht zuletzt hat womöglich auch die NSA-Affäre für den Umgang mit digitalen Daten sensibilisiert. Schöne neue Welt – will ich wirklich, dass Großkonzerne wie Google oder Apple wissen, wann ich mit wem verabredet war? Welche Arzttermine ich hatte, wann ich wo unterwegs war? Dass sie diese Informationen ohne mein Wissen verarbeiten oder weitergeben können…? Einen Terminkalender kann man liegenlassen oder verlieren, wodurch auch andere Menschen Einblick hätten. Aber in der Regel sind die Konsequenzen in dem Falle nicht derart weitreichend.
Was meinst du?
Über meine eigenen Beweggründe, mir einen Filofax zuzulegen, habe ich ja übrigens neulich gebloggt.
Zu guter Letzt sei noch gesagt: natürlich ist die Wahrnehmung durch die Blogosphäre auch selektiv. Blogger sind überdurchschnittlich oft kreative Menschen. Wenn auf einmal die halbe Bloggerwelt mit dem Gestalten und Individualisieren von Filofax-Kalendern loslegt, heißt das noch lange nicht, dass das ein gesellschaftsweiter Trend ist. 😉
Wenn du selber einen Filofax nutzt – seit wann tust du das? Und warum?